Mein erster Marathon- oder - Was lange währt..

München, 14. Oktober 2007 08:30 h
Ich befinde mich mit meiner Frau auf dem Weg zum Olympiastadion, in dessen Nähe nachher der Marathon gestartet wird. Wir erreichen das Stadion, das ich bislang nur als Zuschauer gekannt habe und ich blicke hinunter auf den Rasen. Das Marathontor ist bereits geöffnet und ich kann es mir noch gar nicht richtig vorstellen, dass ich in nicht einmal sechs Stunden in dieses wunderbare Stadion einlaufen und dort unten auf dem Rasen stehen werde. Ich präge mir jedes Detail ein und sage mir dabei immer wieder im Stillen: "Ich will in´s Stadion" (ein wenig Motivations-Proviant kann unterwegs ja nicht schaden). Nach dem Klären der letzten Formalitäten lassen wir im Stadion noch einige Fotos von uns machen und ich beginne mit dem Warmlaufen.



09:40 h
Meine Frau begleitet mich zur Startbox (ca. 1,5 km vom Stadion entfernt). Kurz vor dem Start gebe ich ihr meine warme Trainingshose, die ich zum Schutz gegen die noch recht frischen Temperaturen über die normale Laufhose gezogen habe und halte mich die letzten Minuten mit Hüpfen und leichter Gymnastik warm. Ich stelle mich im ersten Startblock (für Laufzeit bis ca. 3:45 h) ziemlich weit nach hinten, um die schnellen Läufer vor mir nicht zu behindern.

10:00 h / Start
Irgendwer hat gerade in die Luft geballert; scheint aber niemanden so richtig zu interessieren. Erst nach und nach setzt sich der Pulk von Läufern langsam in Bewegung. Ich befinde mich noch ca. 200m von der Startlinie entfernt und fühle mich wie ein Sandkorn in der Eieruhr…

10:05 h / Rennbeginn
Ich beginne leicht zu traben und überquere die Startlinie. Ein Piepen verrät mir, dass mein Chip von der Zeitmessung erfasst wurde. Ich beschleunige leicht auf mein ungefähres Renntempo und sehe die ersten Zuschauer am Rande der Rennstrecke. Kurz vor dem späteren Kilometer 40 beobachte ich, wie ein Verpflegungs- und Getränkestand aufgebaut wird und mir dämmert so langsam, dass dieser Lauf mit all den anderen langen sonntäglichen Trainingsläufen wohl nicht allzu viel gemein haben wird. Ich suche meinen Rhythmus und laufe weiter.

10:11 h / km 1
5:45 min/km ! Das darf nicht wahr sein - wach auf und beweg´ Dich endlich!! Ich habe den ersten Kilometer total verbummelt, da ich mich an den langsameren Läufern orientierte. Da waren aber wohl einige dabei, die um die 4:30 h oder noch langsamer laufen werden. Meine Richtzeit sollte 5:20 min/km sein, um auf ca. 3:45 h als Endzeit zu kommen. Ich bin schockiert, als mir schlagartig bewusst wird, was bereits diese erste Zwischenzeit für mich alles bedeutet: Es hat also nicht gereicht, eine bescheidene Vorbereitung auf das Rennen gehabt zu haben (drei Wochen Training, zwei Wochen krank, wieder drei Wochen Training, noch mal zwei Wochen krank, eine Woche Training, eine Woche verletzt und in der letzten Woche vor dem Rennen nur noch Mittwochs eine Stunde joggen), nein, jetzt muss ich auch noch einem Haufen Möchtegerns und Haile Gebrselassies (Spitzen-Marathonläufer aus Äthiopien, lief zwei Wochen vor diesem Rennen in Berlin einen neuen, phantastischen Weltrekord) für Arme und deren maßloser Selbstüberschätzung auf den Leim gehen. Was habt ihr Pfeifen denn im ersten Startblock zu suchen? Mit den großen Hunden pinkeln wollen, aber dann das Beinchen nicht hochkriegen (im wahrsten Sinne des Wortes)? Geht doch alle nach Mekka, die Sonne putzen!!!
Auf die Hilfe eines Pacemakers zu rechnen kann ich auch vergessen, der ist ca. 25 sek. vor mir (zuzüglich der wenigstens 3 min, die er das Rennen vor mir begann), hat also bereits jetzt mindestens 700 Meter Vorsprung. Den sehe ich nie wieder! Ich bin also nach gerade mal sechs Minuten schon völlig auf mich gestellt. Den Spagat zwischen Zeit-aufholen-wollen und Nicht-zu-früh-übersäuern-dürfen muss ich jetzt auch noch ganz allein hinbekommen - Klasse! Ich gebe mir Zeit bis km 4, da möchte ich wieder einigermaßen in der Zeit liegen. Ich beschleunige etwas, überhole sofort die ersten Spaziergänger mit Startnummern und laufe weiter.

10:16 h / km 2
Den letzten Kilometer bin ich in 5:15 min gelaufen, also ungefähr in meinem geplanten Renntempo. Die Tempoverschärfung nach dem verschlafenen ersten Kilometer ist mir etwas schwer gefallen. Habe auf dem letzten Kilometer weit über 50 von diesen "lebenden Bremsklötzen" überholt und irgendwann mit dem Zählen aufgehört. Es geht nun durch Schwabing und da möchte ich einfach nur die gute Stimmung am Rande der Strecke genießen und mich nicht weiter aufregen müssen. Ich winke einigen Zuschauern zurück, schiebe meinen Ärger beiseite und laufe weiter.

10: 27 h / km 4
Schwabing mit seiner Partymeile liegt mittlerweile hinter mir und ich befinde mich nun auf der Leopoldstraße. Am Siegestor steht die erste Rhythmusband und gibt alles, halb München ist auf den Beinen und jubelt uns zu. Mir ist warm und ich habe meinen Rhythmus gefunden. Nur die Zeit macht mir immer noch etwas Sorgen: ich laufe doch 10 sek/km langsamer als geplant - na ja, dafür werde ich sie aber bestimmt problemlos konstant durchlaufen können und so immer noch ungefähr in guten 3:53 h ankommen. Langsam frage ich mich, warum ich nicht schon viel früher mal einen Marathon gelaufen bin; macht Laune und ist doch gar nicht so schwer. Ich fühle mich prächtig und laufe weiter.

10:49 h / km 8
Jetzt geht es in den Englischen Garten. Meine linke Wade beginnt im Bereich der Achillessehne wieder zu schmerzen. Dort habe ich mir noch in der letzten Woche vor dem Rennen mit abendlichen Eisabreibungen bis zur Gefühllosigkeit eine Muskelentzündung behandelt (offenbar aber doch nur mehr eingedämmt als wirklich geheilt). Na, da habe ich ja noch 34 lustige Kilometer vor mir… Ich bin froh, dass ich direkt neben der asphaltierten Strecke einen handbreiten Pfad im Gras finde und laufe weiter.

11:00 h / km 10
Habe seit etwa drei Kilometern zu einem großen, langgezogenen Pulk von Läufern aufgeschlossen, die ungefähr mein Tempo laufen. Ich sehe viele kleine Grüppchen von zwei bis vier Läufern in gleichen Trikots; Lauffreunde aus dem selben Verein, die sich gegenseitig helfen und ab und zu auch ein wenig anflachsen. Ich genieße einfach den Augenblick, trinke an der Verpflegungsstelle eine Kleinigkeit und laufe weiter.

11:41 h / km 17
Der Englische Garten und auch der erste Anstieg an der Montgelassstraße liegen hinter mir. In der Zwischenzeit ist die hochnebelartige Bewölkung beim Start einem wolkenlosen blauen Himmel mit strahlendem Sonnenschein gewichen - bestes Läuferwetter also. Ich ertappe mich bei dem Gedanken daran, dass jetzt immer noch 25 Kilometer vor mir liegen (meine durchschnittliche Trainingsstrecke an den Sonntagen vor dem Rennen) und dass mir das doch etwas arg lang erscheint. Ich lenke mich sofort von diesem Gedanken ab, indem ich einige Kinder abklatsche, die mir ihre Hände entgegenstrecken. Bei der Verpflegungsstation kurz dahinter trinke ich etwas, versorge mich mit ein paar Obstschnitten und einem Stück Banane und laufe weiter.

11:51 h / km 19
Eine große Gruppe von Läufern "schluckt" mich von hinten: die ersten aus der zweiten Startgruppe. Ich erhöhe das Tempo leicht, bleibe an diesem Pulk dran und laufe weiter.

12:03 h / km 21,1
Halbzeit! Jetzt endlich ist es nach vorne also kürzer als zurück. Ich bemerke, dass ich ganz langsam an Zeit verliere und rechne mir aus, dass mir für die zweite Hälfte nur noch 2:02 h bleiben, um wenigstens noch unter 4:00:00 h anzukommen. Ich spüre langsam Ärger über meine beiden je zweiwöchigen Trainingspausen aufkommen, die ich wegen zweier Infektionen einlegen musste, korrigiere meine Zielzeit auf "unter 4:00 h" und laufe weiter.

12:26 h / km 25
Die letzten Kilometer führten durch ein Industriegebiet. Dort standen fast keine Zuschauer, nur ein paar vereinzelte Spaziergänger mit Hunden waren zu sehen. An der Verpflegungsstelle nehme ich mein am Vorabend selbst gemischtes Getränk auf und hoffe, dass mich die u.a. darin enthalten Cola noch mal etwas aufputscht. Ein Ghettoblaster steht auf dem Gehsteig und dröhnt uns "keep on running" von der Spencer Davis Group entgegen. Ich komme der freundlichen Aufforderung nach und laufe weiter.

12:43 h / km 28
Nun bin ich kurz vor dem Rosenheimer Platz und das Publikum steht wieder dichter neben der Strecke. Ein Zuschauer läuft zu dem Läufer vor mir, begleitet ihn ein paar Schritte, gestikuliert, klatscht in die Hände und ruft ihm etwas zu. Zum Schluss klopft er ihm auf die Schulter und ruft ihm noch etwas hinterher. Da ca. 30 m zwischen uns liegen, kann ich nicht verstehen, was er sagte aber er hat offenbar lange auf seinen Freund gewartet. Doch was nun folgt, trifft mich wie ein Hammer: Er will zu seinem Ausgangspunkt zurück, sieht mich ankommen und läuft nun mir entgegen. Wieder klatscht er in die Hände, ruft mir zu, dass man mir das bis hierher bereits geleistete ja gar nicht ansähe, dass ich unterwegs zu einer tollen Zeit wäre und so weiter und so fort. Im Vorbeilaufen drücke ich nur kurz seine Hände und schnaufe ihm ein paar Worte der Dankbarkeit entgegen. Nach einigen Metern drehe ich mich noch einmal um und sehe, dass er nun den Läufer hinter mir genauso anfeuert wie meinen Vordermann und mich. Ich bin völlig fassungslos über so viel persönlichen Einsatz und Enthusiasmus neben der Strecke und laufe weiter.

13:00 h / km 31
Jetzt laufe bei ich herrlichem Sightseeing-Wetter über den Marienplatz und rechne mir aus, dass ich die letzten 11 km in 5:45 min/km laufen muss, um doch noch unter 4:00:00 h zu bleiben. Das wird ganz schön knapp. Ich genieße die Unterstützung durch das Publikum, schöpfe neuen Optimismus und laufe weiter.

13:12 h / km 33
Noch 9 Kilometer! Ich frage mich gerade, ob das "nur" oder "immer noch" 9 Kilometer sind, denn jetzt betrete ich läuferisches Neuland - noch nie (weder im Training noch in Aufbaurennen zu diesem Wettkampf) bin ich weiter gelaufen. Die Antwort erhalte ich früher als erwartet: Ich nehme an der Verpflegungsstelle einen Wasserbecher und gehe beim Trinken ein paar Schritte, um mir nicht alles in ´s Gesicht zu kippen. Beim Wiederanlaufen bemerke ich schmerzhaft, dass meine Muskulatur bereits ziemlich übersäuert ist. Langsam wird´s hart. "Ich will in´s Stadion!" und laufe weiter.

13:24 h / km 35
Habe vor zwei Minuten gerade mein persönliches Waterloo erlebt: Eine Welle von ca. 20-25 Läufern schwappt dicht links und rechts neben mir vorbei. Ich erkenne in der Mitte einen bunt gekleideten Läufer mit drei orangefarbenen Luftballons; der Tempomacher für die vier-Stunden-Läufer. Ich beschleunige etwas, um in diesem Pulk mitzulaufen und wenigstens noch meine Minimal-Zielzeit zu erreichen, muss aber schon nach ca. 150 m ganz langsam abreißen lassen. Ich hefte meinen Blick noch lange an die allmählich immer kleiner werdenden Luftballons vor mir und kämpfe mit den Tränen. Ich bin total frustriert und laufe weiter.

13:30 h / km 36
Das war´s dann für mich: Der Pacemaker ist außer Sichtweite, der unter-4-Stunden-Traum ausgeträumt, die Säurekonzentration in meinen Muskeln dürfte mittlerweile jeder Essiggurke zur Ehre gereichen und die Knochen in meinen Füßen schmerzen bei jedem Schritt. Ich könnte platzen vor Zorn, besonders als jetzt auch noch die km-36-Markierung so aufreizend langsam an mir vorbeigekrochen kommt. Am liebsten würde ich die verfluchte Tafel einfach kurz und klein treten. Als ich mir meine Randale bildlich vorstelle, muss ich lachen: Ich bekomme die Füße ja kaum noch zum Laufen hoch, will aber hier den Berserker geben - tolle Idee!! Ich habe also wohl doch noch mehr Energie in mir als ich glaube und laufe weiter.

13:36 h / km 37
Ich habe die Schnauze endgültig und gestrichen voll von der ganzen verdammten Rennerei - Warum habe ich Trottel denn auch nicht einfach die normale Stadtrunde im Bus gebucht? Dummerweise wird das jetzt wieder zahlreicher neben der Strecke stehende Publikum auf beiden Seiten der Straße erneut mit metallenen Absperrgittern auf Distanz gehalten. Da ich nicht mehr in der Lage bin darüber zuklettern und das Rennen einfach aufzugeben wähle ich notgedrungen den Weg des geringsten Widerstandes: Ich fluche in mich hinein wie ein kasachischer Ziegenhirte und laufe weiter.

13:42 h / km 38
Jetzt geht es durch Schwabing direkt zurück zum Olympiazentrum. Aufgeben macht hier jetzt keinen Sinn, das Weiterlaufen aber schon lange keinen Spaß mehr. An der vorletzten Getränke-Station gibt es ausschließlich alkfreies Bier in riesigen Halb-Liter-Plastikbechern. Ich spare mir den Zeitverlust und lasse sie stehen. Jetzt kommt wieder ein Zuschauer zu uns gelaufen, begleitet meinen Nebenmann und mich ein kurzes Stück und macht uns noch mal so richtig flott: "Junge, Du bist ja der Wahnsinn! Wie gut Du noch ausschaust nach so einer Strecke - Du läufst ja noch richtig locker und kannst immer noch eine Klasse-Zeit erreichen!" Ich bin schon lange nicht mehr so frech angelogen worden wie hier, aber jetzt bin ich auch noch dankbar dafür. Ich merke, dass mich dieser Lauf wahrscheinlich viel stärker verändern wird als ich mir jemals vorstellen konnte und laufe weiter.

13:54 h / km 40
Die letzte Verpflegungsstation: Irgendjemand reicht mir einen Wasserbecher. Ich nehme ihn im Vorbeilaufen mit und trinke einen Schluck. Ich merke, dass die letzten Kraftreserven reichen und beschleunige noch einmal leicht. Der Olympiaturm kommt in Sicht. Ich erahne das Stadion und laufe weiter.

14:05 h / km 42
Ich bin soeben durch das Marathontor gekommen. Ich bin im Stadion! Endlich! Die Zeit ist zwar beim Teufel, aber was soll`s. Ich habe nur noch 200 m und laufe weiter.

14:06 h / im Ziel
I hob´s ´packt!!! Die Uhr steht auf 4:01:16. Kurz hinter der Ziellinie reicht mir irgendwer eine Wärmedecke, ein anderer Helfer hängt mir meine Medaille um den Hals. Ich lege mich erst einmal zwischen all den anderen Läufern mitten auf den Rasen, um mich einen Augenblick lang auszuruhen und das Rennen zu reflektieren: Ich bin körperlich an mein Limit gegangen, fühle mich aber geistig und seelisch-moralisch wie neu. Nach kurzer Zeit stehe ich auf, trinke ein großes Bier und freue mich über meinen Erfolg, das Rennen überhaupt durchgelaufen zu sein (das war vor einer guten halben Stunde noch gar nicht sicher). Die Enttäuschung über die verpassten 4:00:00 h nagt natürlich noch etwas an mir, aber ich weis, dass ich früher oder später auch mit der Zeit meinen Frieden machen muss und werde. Ich verlasse langsam den Stadion-Innenraum, suche meine Frau und spüre genau: Ich laufe weiter!
Meinen herzlichen Dank an all diejenigen, ohne die ich diesen Lauf nie hätte beginnen oder gar durchstehen können (in chronologischer Reihenfolge Ihrer Hilfe):
- Dem Lauftreff des TSV Treis (der heutige Treiser LWT 2007 e.V.), der meine Frau und mich vor 2 ½ Jahren sehr freundlich und mit offenen Armen aufgenommen hat. - Dr. Hans-Peter Knöß, Facharzt für Orthopädie in Gießen - Lother Jahrling und sein Team von "footpower" in Gießen - Hans und Rosi Hausner für die Überlassung diverser Literatur zum Thema "Marathon" - Christian Knauber, Masseur und Physiotherapeut in Lollar - Ingrid Pohlner, meine Schwägerin, für die 3-tägige Betreuung unserer Tochter Chantal - den beiden unbekannten Zuschauern am Rosenheimer Platz und in Schwabing (Jungs, Ihr beide wart das Beste, das mir auf dieser Strecke überhaupt passieren konnte!)
- und ganz besonders meiner Frau Evelyn.

Götz Kalbleisch


  Start

  Über Uns


  Berichte

      Berichte 2007

      Berichte 2008

      Berichte 2009


  Bilder

  Events

  Volkslauf

  Links

  Kontakt


  Impressum

      Vorstand


  Gästebuch