Einmal wollte ich nach Biel
Nach meiner Fußballer Zeit 1988 fing ich gemeinsam mit meiner Frau das Laufen an.
Von da an nahmen wir regelmäßig an Volksläufen teil. Ich starte mit 10km Läufen über Halbmarathons bis ich am 7.04.91 meinen ersten Marathon in Kassel lief.
Danach begann ich meine Laufdistanzen von Zeit zu Zeit zu steigern und lief 1993 den Böhmweglauf über 58km und 1995 den Rennsteiglauf über 66,5km. Nachdem diese Hürde genommen war, suchte ich mir ein neues Ziel, eine neue Herausforderung: Den 100km Lauf in Biel in der Schweiz.
Durch eine längere Verletzungspause (1996-2001) musste dieser Wunsch erstmal auf Eis gelegt werden, da ich die Trainingseinheiten nicht erfüllen konnte. Nach einigen Jahren hatte ich das Ziel 100km zu laufen aus den Augen verloren.
Erst als mich mein Laufkollege Dirk Dick letztes Jahr ansprach und mich fragte, ob wir nächstes Jahr in Biel starten wollen, erinnerte mich wieder an meinen Wunsch. Darüber hinaus musste ich an die Worte eines bekannten Läufers, Schriftstellers und Buchautors Werner Sonntag denken. Sein literarischer Titel "Irgendwann musst du nach Biel" ist schon lange ein Slogan in der Läuferszene. Und somit war die Entscheidung getroffen: 2009 Biel wir kommen!
Ab Januar 2009 begann unsere Vorbereitung nach Trainingsplänen von
Konstanze Wagner (Laufreport 2x Bielsiegerin) und Reiner Rachowski (10x Biel - Finisher SV Staufenberg) der uns weitere wertvolle Tipps gab. Hierfür herzlichen Dank.
Bis Ende Mai steigerten wir unser Training in der Woche bis auf 130km,
wir liefen in dieser Zeit zur Vorbereitung 3 Marathons und einen 50km Lauf in Marburg sowie viele lange Läufe am Wochenende. Wir waren gut drauf.
Die letzten 12 Tage reduzierten wir das Training. Danach bekamen wir beide Schmerzen in der Wade, die aber nach ein paar Tagen wieder verschwunden waren. Leider begann es bei mir dann im Oberschenkel zu zwicken. Zu allem Übel kamen zwei Tage vor dem Start noch starke Rückenschmerzen dazu. Sollte das ganze Training umsonst gewesen sein?
Aber dann war es endlich soweit am Donnerstag den 11. Juni fuhren Rosi, Dirk und ich nach Biel. Rosi klebte mir vor der Fahrt ein ABC Pflaster in den Rücken gegen die Schmerzen (es brannte die ganze Zeit höllisch ) und ich war froh als wir am Nachmittag in unserem Hotel in Grenchen ankamen.
Nach einem Stündchen Erholung fuhren wir nach Biel in die Eissporthalle um unsere Startunterlagen abzuholen. Hier war schon recht viel los, wir holten uns letzte Informationen zum Lauf und besuchten noch eine kleine Läufermesse.
Nach einem Abendessen und einem Spaziergang am Bielersee, waren wir so gegen 22:30 Uhr wieder in unserem Hotel. Hier unterhielten wir uns, dass wir morgen um diese Zeit schon auf der Strecke sind und morgens als ich aufwachte (6:30 Uhr) dachte ich dass wir ja immer noch liefen.
Puh ganz schön lange, dachte ich mir und es wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst wie lange ich unterwegs sein werde.
Den Tag verbrachten wir mit einer kurzen Streckenbesichtigung (Teilabschnitt),
Essen und den ganzen Nachmittag ruhen auf unseren Betten.
Um 19:30Uhr fuhren wir nach Biel, hier erwartet uns schon eifriges treiben,
Läufer, Radbegleiter und Betreuer und Zuschauer bereiteten sich vor für
"Die Nacht der Nächte". Jeder hat sein eigens Ritual, man cremte sich seine Problemzonen ein, damit es nicht scheuerte, massierte sich die Beine, überprüfte nochmals alles und gab seine Tasche ab.
Am Start verabschiedet uns Rosi und die Rachowskis die Ihren Start später hatten (Marathon + 100km Staffel) und pünktlich um 22:00 Uhr mit einem lauten Kanonenknall ging's los. Ca. 1500 Läufer gingen das Abenteuer 100km Biel an.
Wir hatten uns das Ziel gesetzt, knapp unter 6 Min/km zu laufen. Am Start und auf den ersten 5 bis 6 Kilometer waren viele Zuschauer und feuerten die Läufer an.
Wir mussten uns hier ganz schön zurückhalten, um uns nicht von der Euphorie anstecken zu lassen und zu schnell loszulaufen. Dies gelang nur zum Teil. Obwohl wir immer wieder drosselten hatten wir bei 5km 27:00 Min.(2 Min zu schnell). Vom Wetter her hatten wir Glück, in Biel kamen wir anfangs bei 20 Grad ganz schön ins schwitzen.
Ab Kilometer 8 bis10 liefen wir hinaus in die Dunkelheit
Hier war auch der erste kräftige Berg zu bezwingen, den wir auch zum Teil im schnellen Walkingschritt zurücklegten. Die ganze Zeit beschäftigte
mich eine Verspannung (Zerrung?) im rechten Oberschenkel. Ich hatte starke Zweifel. ob ich so dieses Laufabenteuer durchstehen würde, aber zum Glück wurde es nicht schlimmer.
Um uns herum waren noch viele Läufer, die zum Teil mit Stirnlampen liefen. Dadurch wurde der ganze weg ausgeleuchtet und wir konnten auch davon profitieren. In einer Gürteltasche die ich bei mir trug hatte ich u.a. Schmerztabletten, Magentabletten, Kohletabletten, Blasenpflaster und eine kleine Taschenlampe die ich jetzt ausprobierte, sie war schön hell, aber nur eine Minute lang, dann gab sie ihren Geist auf. " So ein Mist, alte Akkubatterien?" ).
So ging es bis km 18 nach Aarberg. Hier war noch mächtig was los und man bekam schon eine Gänsehaut als man durch eine enge Zuschauergasse über den Marktplatz lief und angefeuert wurde.
Danach liefen wir wieder hinaus in die Dunkelheit, mitlerweile hatten wir unser angestrebtes Tempo gefunden und auch meine Oberschenkelprobleme waren weg.
Bei km 22 in Lyss warteten schon hunderte von Radbegleitern (Betreuer) auf Ihre Schützlinge und begleiteten sie von nun an (außer Emmendamm) bis Biel.
Es herrschte von nun an ein reges Treiben um uns herum. Dirk und ich liefen stets nebeneinander, redeten aber nur wenige Sätze und waren zumeist in den eigenen Gedanken versunken.
Bei km 30 lagen wir gut in unserer Zeit (2:57:35 Std.), obwohl wir von Lyss bis Kilometer 29 wieder einige Höhenmeter gelaufen waren. Von Scheunenberg km 32 bis Oberramsern (Marathonziel) sahen wir vor uns auf einer Kilometer langen geradeaus verlaufenden Strecke, einen endlosen nicht enden wollenden Lindwurm von Lichtern (Läufer + Radfahrer); ein tolles Bild in dieser Nacht.
Bei mir lief es jetzt gut, nur die Beine waren nicht mehr ganz so locker.
An den Verpflegungspunkten (ca. alle 5 km nahmen wir abwechselnd Gel-Beutel,
Bananen, Brot, Boullion, und Iso-Getränke zu uns.
Nach Oberramsern (Marathonziel) ging es wieder ca. 4 km bergauf und ich merkte, dass Dirk nicht mehr neben, sondern etwas hinter mir lief. Er sagte mir dass er Probleme in der Wade habe und ich solle weiterlaufen. Ich versuchte Ihm etwas Mut zu machen, sagte Ihm das wir doch zusammen ankommen wollten und das wir noch gut in der Zeit liegen (50 km - 4:57:20 Std.) und die Hälfte gelaufen hätten. In Kernenried (Km 52) liefen wir im Ort eine kleine Steigung hoch und bevor ich es bemerkte war Dirk 30-40 m hinter mir und ging. Er forderte mich auf weiter zulaufen, was ich auch schweren Herzens tat. So erreichte ich bei km 56 Kirchberg; hier konnte man offiziell mit Zeit aussteigen. Ich dachte an Dirk und hoffte dass er weiterlaufen konnte. Nach der Getränkestelle verließ ich den Ort und nun begann der berühmt, berüchtigte Ho Chi Min - Pfad (Emmendamm).
Ich lief in einen Wald, dort war es so dunkel, dass ich meine eigene Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte. Das Läuferfeld war bereits weit auseinander gezogen und so war ich gerade allein (ohne Licht, Taschenlampe defekt). Die ersten hundert Meter war der Weg noch gut und breit und ich lief vorsichtig weiter, doch nach einer Biegung wurde es schmal und steinig. Etwa 20 m vor mir sah ich einen Läufer mit Stirnlampe der plötzlich umfiel, ich war sofort bei Ihm und half ihm auf. Er hat sich beim Sturz nicht verletzt und so liefen wir ein Stück zusammen.
An einer Weggabelung bogen wir links ab und liefen auf einem guten und breiten Weg weiter. Nach 200 m stutzten wir und blieben stehen, wir fragten uns ob wir hier noch richtig
wären und ob uns Läufer folgen würden. Da sahen wir auf der rechten Seite ca. 15-20 m über uns Stirnlampen leuchten und so krabbelten wir auf allen vieren durch das Unterholz den Hang hoch. Jetzt waren wir wieder auf der original Strecke und sahen die hellen LED Lampen die den Weg markierten.
Ich schloss mich nun einen schnelleren Läufer an, der ungefähr mein Tempo lief. Ich versuchte so dicht wie möglich an Ihm dran zu bleiben, damit ich den Weg im Lichtkegel seiner Stirnlampe sehen konnte. Wie ein Schattenmann machte ich jede Bewegung und Richtungsänderung auf dem schmalen, mit Steinen und Wurzeln übersäten Weg mit.
3 - 4 mal kam ich ins Stolpern; fiel aber nicht hin. "Puh Glück gehabt"! Nach 4 km hatten wir diese schwierige Passage gemeistert, danach wurde der Pfad besser und man konnte bis zum Ende des Emmendamms (km 65) gut Laufen.
Jetzt wurde es langsam wieder hell, der neue Tag begann. Hier warteten auch wieder die Radbetreuer auf Ihre Läufer/innen, die sie auf dem schmalen Emmendamm nicht begleiten durften. Nach dem Verpflegungspunkt in Geralfingen (km 67) stieg die Strasse leicht und stetig an. Nun merkte ich das meine Beine
schwerer und müder wurden.
Die Zeit bei km 75 (7:31 Std.) bestätigte mir, dass ich langsamer wurde und so verabschiedete ich von meiner angestrebten Wunschzeit von 9:59 Std.
Jetzt galt es das letzte Viertel noch durchzuhalten. In Bibern km 76 konnte man letztmalig mit Zeitmessung aussteigen; aber das kam bei mir gar nicht in Frage. Nach Bibern kam der letzte, steile Anstieg (ca. 1km), den ich mit schnellem Gehen meisterte. Jetzt hatte ich die letzte schwierige Passage geschafft; dachte ich. Doch nun folgte ein 4km langes bergab Stück. Meine vordere Oberschenkelmuskulatur tat so weh, ich hätte vor Schmerzen brüllen können, aber ich mußte ja runter. So kam ich nach Arch (km 80) und wenig später an die Aare.
Jetzt waren es "nur noch" 19 flache Kilometer. So langsam wurde es warm, die Sonne kam raus. Meine Beine wurden immer schwerer und die 5 km Abschnitte immer länger. Um mich herum einige Läufer/innen und obwohl ich schon ziemlich kaputt war, konnte ich noch einige überholen. Jetzt kämpfte ich mit meinen inneren Schweinehund, der sagte ich solle doch gehen. Doch der Kopf sagte die paar Kilometer schaffst du auch noch. So lief ich weiter und weiter und hoffte auf die nächste Verpflegungsstelle? Sie kam in Büren (nach 9 km). Ich trank 2 Becher Iso und 2 Becher Cola danach ging es mir wieder etwas besser. Von hier waren es "nur noch 11 km".
Doch plötzlich bei km 91 krampfte die rechte Wade, was soll ich machen, dass hatte ich ja noch nie! Muß ich die letzten 9 km gehen? Ich blieb stehen und massierte meine Wade (ca. 2 Min.), dann lief ich wieder langsam und vorsichtig los, es ging ("Jubel").
So lief ich weiter vorbei an Km 95. Wo ist Rosi? Sie wollte mich doch abholen. Dann bei km 96 sah ich Sie, ich freute mich riesig, wir unterhielten uns. Rosi hat in der Zwischenzeit den Martahon als 4. Frau und 1. inder W50 mit einer Zeit von 3:44:35 benedet. Jetzt gingen die letzten Kilometer wieder viel schneller rum.
2 Km vor dem Ziel überholte uns Reiner Rachowski (Staffelläufer Franzi Runners) und munterte mich noch einmal auf. Berichtet dabei, das Dirk noch im Rennen ist. Das freut uns riesig.
Bei Kilometerschild 99 blieb ich noch mal kurz für ein Foto stehen.
Dann kam der letzte Km, auf den ich schon soooo lange gewartet hatte. Nun lief ich glücklich, geschafft und erleichtert über die Ziellinie.
Ach ja die Zeit (10:14:16 Std.), die ist aber bei so einen Lauf zweitrangig, jeder der
durch kommt ist ein Sieger. Im Ziel wurde ich gleich von Rosi, Fam. Rachowski und Norbert Wolf beglückwünscht.
Natürlich schaffte auch er den langen Weg bis ins Ziel, mit 10:56:53 blieb er noch unter 11 Stunden, was ebenso eine super Zeit ist. Völlig erschöpft und mit schmerzender Wade sagte er: "Ich laufe nie mehr wieder".
Aber mittlerweile hat er schon wieder an Wettkämpfen teilgenommen.
Das Abenteuer Biel ist geschafft und war ein ganz besonderes Erlebnis.
Werner Sonntag der dieses Abenteuer schon viele male erlebt hat, schreibt in seinem Buch ganz richtig:
"Irgendwann musst Du nach Biel"
Hans Joachim Hausner